EVA-MARIA WILDE
EVA-MARIA WILDE
Texts
Die Chiffren der Stadt
Zur Malerei von Eva-Maria Wilde. Von Magdalena Kröner
Beirut. Chongqing. Hongkong. Belgrad. Shanghai. Namen wie diese rufen unweigerlich Bilder auf, auch für diejenigen , die diese Orte nicht bereist haben. Eva-Maria Wilde hat diese Orte besucht. Sie hat sich hindurchtreiben lassen, auf ausgedehnten Reisen. Meist allein reisend, ohne Übersetzer oder andere Filter und Mediatoren der Außenwelt, hat sie wahrgenommen, fotografiert, im Kopf notiert.
Diese „Notizen“ übersetzen sich in eine ebenso differenzierende wie distanzierte Malerei, der es gleichwohl möglich ist, das Gesehene schärfer zu zeichnen, als es eine vermeintlich objektive Fotografie leisten könnte.
Eva-Maria Wildes Malerei markiert das Zusammenfallen von realer Gegenständlichkeit, skulpturaler und zeichenhafter Gehalte, die sie aus der konkreten Architektur filtert und in eine originäre, flächige Bildsprache übersetzt, deren Farbigkeit wenig übrig läßt von den schillernden, blendenden Fassaden-Effekte der Großstädte. Eva-Maria Wilde konzentriert sich neben den Fassaden auch auf Ruinen, auf Brachen und Leerstände und beleuchtet darin die dunkle Seite der urbanen Verheißungen.
Der urbane Raum kondensiert in ihrer formal verdichteten, ent-individualisierten malerischen Darstellung, die gleichwohl im Lack noch Spuren des Pinselstrichs enthält, zur Chiffre; zum Emblem einer gesichtslosen, aber dennoch faszinierenden Urbanität, die längst überall auf der Welt ähnliche Züge entwickelt hat.
Dabei bildet Eva-Maria Wilde kaum tatsächliche Erscheinungsformen der Städte ab, vielmehr konzentriert sie sich auf die Visualisierung der körperlichen Erfahrung, die sich der jeweiligen Umgebung entsprechend zeigt. Aus leichter Untersicht, gekippt oder im Ausschnitt bildet sich eine vor allem in der Bewegung erlebte, ephemere Erfahrung.
Der Raum des Erfahrenen verdichtet sich in ihrer Malerei zu einem flächigen All-Over, die das fassadenhafte der abgebildeten Räume noch verstärkt. Zum Teil allen räumlichen Eindrucks beraubt, verdichten sich Fassaden und Häuser zu farbigen Flächen, während die starke Rhythmisierung der Bildfolgen einer filmischen Wahrnehmung zu entsprechen scheint, die zugleich die Homogenität der Architekturen aufbricht und in Fragmente aufsplittert.
Eva-Maria Wildes Bildsprache folgt den inneren Mustern des Wahrnehmens, die die Strukturen der im Wachstum, im Umbruch oder auch im Verfall begriffenen Städte mit seismographischer Sensibilität betrachtet.
Magdalena Kröner in Katalog zur Austellung Galerie Pankow, Berlin 2007
Anywise – The city of Any
von Haegue Yang
Die Städte in Asien sind, wie Henry N. Cobb sie in einem Text genannt hat, „The Cities of Any“. Das Wort Any bezeichnet eine Unbestimmtheit. Diese beinhaltet nicht nur Chaos, sondern auch Innovationen, alles ist möglich. Die Situaion ist einzigartig. ARCHITECTURAL BIG BANG: In kürzester Zeit entstanden zahlreiche Hochhäuser mit weltrangiger Höhe und dicht gebaute Städte. WE WANT TO GUIDE THE BULLDOZERS TO THE RIGHT PLACES – SINGAPORE GREEN PLAN: in den Städten scheinen die Menschenignoriert zu sein. Vielleicht sind die Gebäude tatsächlich ohne großen Respekt vor den Menschen gebaut, da die Städte ohnehin von Menschen überflutet sind. Anywise steht zum einen für die noch überlebende Weisheit des alten Asiens zum anderen aber auch für die willkürlich und anonym scheinenden Ordnungsprinzipien in den Städten, die authentisch und in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen unverzichtbar komplex sind. BIGNESS IS WHERE ARCHITECTURE BECOMES BOTH MOST AND LEAST ARCHITECTURAL: Durch die enorme Menge von Aktivitäten in und um die Hochhäuser wird ein Ausgleich möglich zwischen maximaler Architektur und verschiedenen Gesellschaftsprinzipien, wie Resistenz und gegenseitiger Akzeptanz. SOFT SUBSTANCE, HARSH TOWN: Trotz der Substanzarmut der Gebäude ist „The City of Any“ ein Stadtbild de Widerständigkeit gegen die konventionelle Ewigkeit ohne Abwertung der Wichtigkeit der Stadtpläne. FRANKENSTEIN`s CREATURE OR HUMAN SCALE?: Die Stimulation der Users und die unkontrollierbaren Experimente der Architekten im Feld der Giganten bilden eine ultimative Komplexität der Stadt und der Menschen.
Haegue Yang in Katalog zur Ausstellung Eva- Maria Wilde, Frankfurt am Main, Dresdner Bank AG, 2000
TOWERS
von Marten Frerichs
„Die Malerei ist hartnäckig. Wie das Unterdrückte taucht sie immer wieder auf. Doch ihre Geschichte wird nicht von Malern gemacht, die aufgeben und wehmütig den altmodischen, zitternden Strich des Zobelhaarpinsels nachahmen, oder von denjenigen, die nachgeben und etwas produzieren, das wegen der erklärten Absicht eine Art Photorealismus ist.“
(Jeff Perrone, Parkett Nr. 33, 1992)
Olaf Karnik beschreibt die Musik des ´No U-Turn´ Labels „bei entsprechender Lautstärke [als] physisches Gegenüber. Und sie kommt nicht als Freund, sondern als Alien.“
Die Bilderwelt Eva-Maria Wildes, ist ein Gegenüber, physisch wie psychisch. Diese Wirklichkeit setzt sich zusammen aus großformatigen Raster-, Skyscraper- und Metropolenbildern, sowie einer nicht abreißenden Flut von be- und übermalten Werbepostkarten.
Die Postkartenübermalungen lassen den Betrachter an althergebrachten Fähigkeiten wie Sammeln, Ordnen, Vergleichen, Bestimmen und Erinnern zweifeln. Sie sind ein Angriff durch Überangebot, welches die Grenzen zwischen Einzelbild und serieller Produktion überschreitet.
Die großformatigen Malereien erzeugen ein Spannungsgefüge von hineingesogen und zurückgestoßen werden, unterstützt durch eine reduzierte Palette von Grundfarben und deren Ausmischung, sowie dem widerkehrenden Farbton der Grundierung - ein Rosa, welches einem alptraumartig die Wahl läßt zwischen kindlicher, niedlicher Mädchenfarbe (Abteilung Heile Welt) und einer bad taste Modefarbe - bekannt aus den siebziger Jahren und Billigpreiszonen.
Die fast mechanische Ausführung der Malerei, verstärkt durch die Antistofflichkeit von Dispersions- und Lackfarbe, läßt im Betrachter keinen heimlichen Wunsch des Berührenwollens aufkommen.
Man ist Gefangener der Raster- und Stadtstrukturen. Beobachtet wird man schon eine ganze Weile von einer Vielzahl von Türmen, deren Konstruktion und Funktion sich weder aus einem Architekturdiskurs der minimalisierten und reduzierten Formensprache, noch aus der Paranoia und Systematik eines Überwachungsstaates ablesen läßt - Entkommen fast unmöglich.
Marten Frerichs 1997
in Künstlerbuch Towers zur Ausstellung 4/6, Leonhardi Museum Dresden (Olaf Karnik in SPEX 3/97)
© Eva-Maria Wilde 2010 und die Autoren
MEGALOPOLIS
Maria Zinfert
Eva-Maria Wilde joins lines and grids, vertically arranged structures, façade fragments that reflect one another and facets of modernist architecture into the gleaming, fragile horizon of an exterritorial megalopolis. It is supplied by a nearly unfathomable abundance of images from the world’s metropolises that she has traveled: Leningrad and Moscow, Novgorod and Tallinn, Budapest, Florence, Rome, Naples, Palermo and Syracuse, New York, Lima and Quito, Beirut and Belgrade, Kuala Lumpur and Singapore, Lviv, Chernivtsi, Iaşi, as well as cities of over a million inhabitants in Brazil and China, including São Paulo, Rio de Janeiro and Brasilia, Hong Kong, Shanghai, Shenzhen and Chongqing. (…including Hong Kong, Shanghai, Shenzhen and Chongqing, São Paulo, Rio de Janeiro and Brasilia.
Wasteland. Sandhills. The Smell of Fresh Concrete.
Walter Benjamin , In order to fully understand the sorrow of such glorious, bright cities, one had to have been a child in them. When Maria Wilde was born in Dresden, the Transit Agreement between the two Germanies had been in effect for one day. The XXth Summer Olympic Games opened in Munich. Angelika and Berndt Wilde moved to Berlin-Adlershof with their daughter Eva-Maria. The Fernsehturm (Television Tower) on Alexanderplatz was still a radiant innovation. Papua New Guinea gained its independence. In New York City a blackout was caused by a lightning storm. The Palast der Republik (Palace of the Republic) opened in the GDR. Sigmund Jähn became the first German astronaut. Eva-Maria Wilde went to school. Josip Broz Tito, the president of Yugoslavia, died. A strike began at the Lenin shipyard in Gdańsk. Pope John Paul II rehabilitated Galileo Galilei. The Wilde family moved from a two-room ground floor apartment to the top floor of a prefabricated, standardized glass and concrete high-rise in Berlin-Lichtenberg; to wasteland, sandhills and the smell of fresh concrete. The first trips – to the Soviet Union and annual summer vacations in Budapest – followed this move. On the Glienicke Bridge twenty-five spies from the West were traded for four agents from the East. Five hundred thousand people demonstrated at Alexanderplatz. Eva-Maria Wilde received her diploma during the last year of the German Democratic Republic. She had already applied to the Hochschule für Bildende Künste in Dresden, where she would be the youngest and one of the few women in Prof. Kerbach's class. She shared her studio with Eberhard Havekost and Thomas Scheibitz. She remained in Dresden until the start of her Master's program, although she did not settle there. She had already traversed Italy within her first academic year and she traveled to New York before the beginning of the second. Trips followed to the Amazon River area in Peru and to the Galápagos Islands of Ecuador. Before her return from Dresden to Berlin, she was in Malaysia, Singapore and Eastern China. She began the new millennium with a second trip to China and an extensive stay in Brazil, as well as trips to Belgrade and Beirut. Later, she would travel through the Ukraine and Romania by car. This was followed by a short excursion to Tangier. A trip to North Korea is imminent.
Memory Traces. Material Resources. Independent Worlds.
Eva-Maria Wilde’s trips are processes. She is mostly alone when she travels. Her undivided attention focuses on the architecture and on the social structures of the world's largest cities. Her technical recording device is the camera. The manifold urban visions with their fluctuating half-lives are reflected by thousands of photographic travel pictures capturing memory traces, material resources and independent worlds. For the artist, constantly changing perspectives result from the movement through the vertical and horizontal grids of the cities; proportions and relations are displaced and rebalanced again and again. Urban features can be variously interpreted while passing through a city. Western metropolises represent a different history than South American cities that were built on a colonial past, whereas the more recent megacities shooting up in Asia reflect a dynamic in which the future and the past seem to be colliding into one another head on. In her paintings Eva-Maria Wilde designs architecture that is relentlessly driven into the future. It is an architecture reminiscent of that found in the films The Crowdby King Vidor and Playtimeby Jaques Tati, or Renaissanceby Christian Volckman, for example; architecture, whose violent destruction or insidious decay are inscribed within them. The diverse, disfigured towers, gigantic honeycomb-like apartment blocks, reflections on high-rise building façades, cracked surfaces and empty shells of abandoned buildings that recur in Eva-Maria Wilde’s works are signs of the urban world. Her paintings, collages, objects and installations combine and associate the experience of the city in multiple cross-overs, generating a complex image of a global megalopolis marked by temporality.
Maria Zinfert 2007 in catalogue Gallery Pankow, Berlin
translation: Wendy Wallace
MEGALOPOLIS
von Maria Zinfert
Linien und Raster, vertikal ausgerichtete Strukturen, einander widerspiegelnde Fassadenfragmente, Facetten modernistischer Architekturen fügt Eva Maria Wilde zum schimmernd brüchigen Horizont einer exterritorialen Megalopolis. Gespeist aus einer schier unüberschaubaren Fülle von Bildern der von ihr bereisten Metropolen der Welt: Leningrad und Moskau, Nowgorod und Tallinn, Budapest, Florenz, Rom, Neapel, Palermo und Syrakus, New York, Lima und Quito, Beirut und Belgrad, Kuala Lumpur und Singapur, Lemberg, Czernowitz, Iasi und die Millionenstädte Chinas und Brasiliens: Hongkong, Shanghai, Shenzhen und Chongqing, Sao Paulo, Rio de Janeiro und Brasilia.
Brachland. Sandhügel. Geruch von frischem Beton.
Um die Trauer so ruhmreich glänzender Städte zu kennen, schreibt Walter Benjamin, muss man in ihnen Kind gewesen sein. Eva-Maria Wilde kam in Dresden zur Welt kam. Das Transitabkommen zwischen beiden deutschen Staaten war seit einem Tag in Kraft. In München wurde die XX. Sommer Olympiade eröffnet. Angelika und Berndt Wilde zogen mit ihrer Tochter Eva-Maria nach Berlin-Adlershof. Der Fernsehturm am Alexanderplatz war noch eine strahlende Neuheit. Papua Neuguinea wurde in die Unabhängigkeit entlassen. In New York kam es durch Blitzschlag zum Stromausfall. Der Palast der Republik wurde eröffnet. Sigmund Jähn flog als erster Deutscher durchs All. Eva-Maria Wilde musste in die Schule gehen. Der jugoslawische Präsident Josip Broz Tito starb. In der Danziger Lenin-Werft begann ein Streik. Galileo Galilei wurde von Papst Johannes Paul II. rehabilitiert. Familie Wilde zog von der Zweiraumwohnung im Erdgeschoss hinauf in die oberste Etage eines SK-Scheibe Hochhauses in Berlin-Lichtenberg. Brachland. Sandhügel. Geruch von frischem Beton. Auf den Umzug folgten die ersten Reisen: in die Sowjetunion, alljährliche Sommerferien in Budapest. Fünfundzwanzig Westspione wurden auf der Glienicker Brücke gegen vier Ostagenten ausgetauscht. Auf dem Berliner Alexanderplatz demonstrierten fünfhunderttausend Menschen. Eva-Maria Wilde machte im letzten Jahr der DDR Abitur. Schon davor hatte sie sich an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste beworben. In der Klasse Kerbach war sie die Jüngste und eine der wenigen Frauen. Sie teilte das Atelier mit Eberhard Havekost und Thomas Scheibitz. Bis zum Beginn des Meisterschülerstudiums blieb sie in Dresden. Sesshaft wurde sie dort nicht. Schon im ersten Studienjahr durchquerte sie Italien und noch vor Beginn des zweiten reiste sie nach New York. Es folgten Reisen ins Amazonasgebiet in Peru und nach Ecuador auf die Galapagos Inseln. Vor ihrer Rückkehr von Dresden nach Berlin war sie in Malaysia, Singapur und im Osten Chinas. Das neue Jahrtausend begann sie mit einer zweiten Chinareise und einem ausgedehnten Aufenthalt in Brasilien, mit Reisen nach Belgrad und Beirut. Später ging es mit dem Auto durch die Ukraine und Rumänien. Es folgte ein kurzer Abstecher nach Tanger. Eine Reise nach Nordkorea steht unmittelbar bevor.
Erinnerungsspuren. Materialfundus. Eigenwelten.
Eva-Maria Wildes Reisen sind Methode. Vorwiegend ist sie allein unterwegs. Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gehört den Architekturen und sozialen Strukturen der großen Städte der Welt. Technisches Aufzeichnungsgerät ist die Fotokamera. Den vielfachen urbanen Visionen mit schwankenden Halbwertzeiten korrespondieren Tausende fotografischer Reisebilder: Erinnerungsspuren. Materialfundus. Eigenwelten. Aus der Bewegung durch die vertikalen und horizontalen Raster der Städte ergeben sich für Eva-Maria Wilde ständig veränderte Perspektiven; Proportionen und Relationen verschieben sich und sind immer wieder auszutarieren. Im Hindurchgehen wird das Stadtbild variabel lesbar. Die westliche Metropole bildet eine andere Geschichte ab als die auf einer kolonialen Vergangenheit wuchernden Städte Südamerikas, während die jüngst aufschießenden Megastädte Asiens eine Dynamik widerspiegeln, in der Zukunft und Vergangenheit jäh ineinander zu stürzen scheinen. Eva-Maria Wilde entwirft in ihren Malereien unaufhaltsam in die Zukunft getriebene Architekturen. Architekturen, wie sie etwa King Vidor in The Crowd, Jaques Tati in Playtime oder Christian Volckman in Renaissance wirken lassen. Architekturen, denen gewaltsame Zerstörung oder schleichender Verfall eingeschrieben sind. Die in Eva-Maria Wildes Arbeiten mannigfach wiederkehrenden zerschrundenen Türme, gigantischen Wohnwaben, Reflexionen auf Hochhausfassaden, rissigen Oberflächen und leeren Hüllen verworfener Bauten sind Zeichen urbaner Welten. Ihre Malereien, Collagen, Objekte und Installationen verknüpfen und assoziieren in vielfachen Überblendungen die Erfahrung der Großstadt. Eva-Maria Wilde generiert das komplexe Bild einer von Zeitlichkeit gezeichneten globalen Megalopolis.
Maria Zinfert, Januar 2007
(in Katalog zur Ausstellung Galerie Pankow Berlin)
Die Türme das sind die Strassen
Atelierstipendium 1999 in Frankfurt am Main für Eva Maria Wilde
von Caroline Wesenberg
Mit einem künstlerischen Selbstverständnis, in dem der Bildproduzent sich gleichsam als Durchgangspunkt, als Schnittstelle des kursierenden Text- und Bildmaterials begreift, rezipieren heute Kunststudenten, die ihren Ort in der Gegenwart besetzen wollen, in atemberaubender Geschwindigkeit und schwindelerregendem Umfang unterschiedslos jegliche Art von Bild und Text: "Alles, alles liegt offen da wie ein Traum, der in Erfüllung ging, der wahr wurde, uns zu unterhalten...", heisst es in einem Lied der Band ‚Mutter'. Die ironisch-reflektierte Akzeptanz des gesellschaftlichen Dilemmas hat unter der jüngeren Generation Gelassenheit gezeitigt. Illusionslos, aber mit geöffneten Augen lässt sich unvoreingenommen und neugierig dem 21. Jahrhundert entgegensehen - das Sehen selbst wird als Herausforderung verstanden. Unter jungen Künstlern ist eine erneute Hinwendung zum gemalten Bild auszumachen. Diese Art von Kunstproduktion ist selbstverständlich kommunikativ. Es ist keine Kunst der Krise mehr. Die Arbeiten der 1972 in Dresden geborenen und in Berlin lebenden Malerin Eva-Maria Wilde berichten über Erfahrungen des Sehens. Sie fragt nach der Logik der Wahrnehmung, nach einer im Kontext neuer Medien veränderten Ästhetik und gewandelten Sensibilität.
Ihr lebhaftes Interesse gilt Wolkenkratzern, Bürotürmen, Hochhäusern. Auf Baustellen zeichnet und fotografiert sie die leeren, teils noch skelettartigen Rohbauten. Von Bedeutung für die Erweiterung des Sichtfeldes, auch für eine Wandlung des Blickes sind Reisen. New York war eine wichtige Erfahrung. Die für Dresden und Berlin vergeblich erhoffte weltoffene Modernität findet sich in ihren grossformatigen Raster-, Skyscraper- und Stadtstrukturbildern. Im Frühjahr 1999 reiste sie in die von beispielloser Bauwut geprägten Metropolen Hongkong, Shanghai, Singapur und Kuala Lumpur. Von dort hat sie einen enormen Materialfundus von über zweitausend Fotos mitgebracht.
Eva-Maria Wilde, der Christoph Tannert eine regelrechte "Seh-Sucht" bescheinigt, erhält in diesem Jahr das von der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank gemeinsam mit der Stadt Frankfurt am Main vergebene Atelierstipendium für einen einjährigen Aufenthalt in der Bankenstadt, deren Architektur und Bauplanungen für das neue Jahrhundert sie interessieren dürften. Die Juroren haben sich damit für eine Position entschieden, die den Anspruch auf Zeitgemässheit problemlos mit einem klaren Bekenntnis zum Artifiziell-Handwerklichen verbindet.
Ein wesentlicher Aspekt ihres Schaffens sind Raum-Installationen. Neben den grossformatigen Malereien entstanden dreidimensionale Objekte, Türme aus rotbraunen, rohen Schaltafeln, mit Gitterstrukturen aus farbigem Klebeband überzogen. Das Interesse an Fragen der Proportionalität und am Umgang mit Materialien, die zwar aus den ursprünglichen Kontexten (Baustelle, Büro) herausgenommen sind, aber dennoch ihre Identifizierung erlauben, machen diese Objekte zu spielerisch-subversiven, artifiziellen Produkten.. Die Installationen sind begehbare Arrangements: die ‚Towers', im Raum gestaffelt, in Beziehung gesetzt zu den grossformatigen, ebenfalls Stadtsituationen assoziierenden Bildern, involvieren den Betrachter und veranlassen ihn, den Standort zu wechseln, die Situationen unter anderer Perspektive neu zu betrachten. Es ist diese Gleichzeitigkeit von Raumerfahrung und Werkrezeption, von der Robert Morris ausgeht, wenn er in seinen ‚Notes on Sculpture' vermerkte: "Man ist sich stärker als früher dessen bewusst, dass man selber die Beziehungen herstellt, indem man das Objekt aus verschiedenen Positionen, unter wechselnden Lichtbedingungen und in unterschiedlichen räumlichen Zusammenhängen erfasst." In ihren malerischen Arbeiten schieben sich die Fassaden derart in- und übereinander, dass man ihre Begrenzungen nur als Unterbrechungen eines rasterartigen Musters wahrnimmt. Bei aller strukturellen Klarheit irritieren verblüffende Überlagerungen und Spiegelungen. Mit der Betonung der Fläche, im Entzug von Raum und Volumen, werden Grossstadt-Sentimentalität (die Schichtung von Erinnerungen) und Romantizismus vermieden. Wilde notiert auf der Leinwand optische Erlebnisse mit grosser malerischer Dichte und verwandelt sie in Flächenkompositionen - es ist eine unmetaphysische Malerei, die sich über nichts anderes als über Flächenbeziehungen definiert. Mit den konkreten Mitteln von Linien und Farben konstruiert sie eine visuell-ästhetische Realität von Bildstrukturen.
In den neuen Arbeiten ist die Dynamik der Strassen Hongkongs in einen Prozess übersetzt, der Räumlichkeit, Volumen, Gestalt der gewaltigen Hochhäuser in unzählige Farbfelder transformiert. In den Spiegelungen gegenüberliegender Glasfassaden lösen sich Strukturen auf, durch die physikalischen Eigenschaften des Lichts brechen sie sich gleichsam in sich selbst. Durch die farbliche und dekonstruktivistische Aufsplittung nimmt man den Bildgegenstand erst allmählich, in einer Art simultanem Sehen, wahr. Die an Wasseroberflächen erinnernden gebrochenen Spiegelungs-Linien heben Raumgrenzen auf und entziehen den Bildern das Alltägliche. Durch das im Ausschnitt, oft in extremer Aufsicht, ohne Perspektive gegebene Motiv kommt den einzelnen Bildelementen durchgehend gleiche Bedeutung zu. Das Reale und die Projektion sind mit der gleichen Aufmerksamkeit in genauer Beschreibung erfasst.
Die gezielte Verbindung von Komposition und Gegenstand lässt sich nur mit der für Eva-Maria Wilde spezifischen Bildgenese erklären. Es ist die durchaus mit Empfindungen gemischte Erinnerung an das erlebte Sehen selbst, das sie zum Malen bewegt, nicht die Erinnerung an Dinge oder Situationen. Der mit einer betont klaren, sachlichen Malerei ins Bild zurückgeholte staunende Blick überträgt sich auf den Betrachter. Die Bilder, die den Begriff des ‚subjektiven Eindrucks' nicht kennen, haben dennoch etwas von der ursprünglichen, überraschenden Erregung im Augenblick des Sehens bewahrt. Der Massstab für die Qualität der Bilder ist bei Eva-Maria Wilde eine Frage der sichtbar werdenden Kraft ihrer Liebeserklärung an das erlebte Jetzt.
© Caroline Wesenberg Sommer 1999
Die Sammlungen aus Eva-Maria Wildes Reisen beispielsweise nach China, Brasilien oder Nordkorea beinhalten Gebrauchsobjekte und Bilddarstellungen von Möglichkeiten und Systemen gesellschaftlichen Erinnerns in einem urbanen Zusammenhang.
Was und wie sich jemand etwas merkt ist für Wilde dabei ebenso wichtig wie die bildnerischen Ergebnisse und die Methoden des Erinnerns: Architekturpläne, Gebrauchsanweisungen, naturwissenschaftliche Bildtafeln, Weltkarten, Fassadenstrukturen sowie auch ikonische Bilder, die aufgrund ihrer bildnerischen Kraft und Anziehung im menschlichen, kollektiven Bildgedächtnis Platz gefunden haben.
Das Memory-Spiel findet seine erste Erwähnung im Japan des 16. Jahrhunderts. Memory trainiert Erinnerungsvermögen und Konzentration. Wie diese Vorgänge aber, die Dynamik und Adaptivität neuronaler Systeme und ihrer erstaunliche Flexibilität genau funktionieren und warum sie individuell so unterschiedlich arbeiten, ist bisher wissenschaftlich noch nicht eindeutig erforscht. Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass jeder Mensch ausnahmslos alle Sinneseindrücke in seinem Gedächtnis speichert, aber nur Zugriff auf die für ihn Wichtigen hat, während ein „Savant“, ein sogenannter Inselbegabter, in einem singulären Teilbereich auf jede Information zugreifen kann, unabhängig von ihrer Relevanz oder ihrer emotionalen Bedeutung. (Stephen Wiltshire ist beispielsweise ein „Savant“, nach einem 45 minütigen Helikopterflug über Rom, zeichnete er ein 6 Meter langes, detailgetreues Luftbild-Panorama der Stadt aus dem Gedächtnis).
So wie die Struktur eines Gehirns also erst über die damit ausgelösten Aktionen verständlich wird, so wird auch die Architektur einer Stadt erst über ihre realen Gebäude und deren Benutzung sichtbar.
In ihrer all-over -Rauminstallation in der Galerie Zanderkasten stellt Eva-Maria Wilde erstmals dokumentarisches Material, Collagen aus Found Footage, Lackbilder, Turmskulpturen und Objekte gegenüber. Ebenso gliedern sich auch Arbeiten – ebenfalls überwiegend Lack auf Leinwand – in die Ausstellung ein, die für ein Kunst-am-Bau-Projekt im Uniklinikum Dresden (Neubau Neurologisch Diagnostisch Internistisches Zentrum DINZ) konzipiert sind, in dem Erinnerung, Gedächtnis und medizingeschichtliche Diskurse verschiedener Epochen in Form eines räumlichen Memory entworfen werden. Ein für die Ausstellung eigens konzipiertes räumliches Raster als Hängsystem assoziiert architektonische Versatzstücke urbaner Behausungen, die den Raum neu strukturieren und definieren.
Bewohnte und verlassene, entwertete, zerstörte oder unvollendete Großstadtarchitektur und utopische Bauobjekte sind zentrales Thema Eva-Maria Wildes Arbeit, das sie in Collagen, Malereien, Objekten und Installationen behandelt. Diese Versatzstücke urbaner Strukturen werden nun durchbrochen und erweitert durch Schaltpläne kultureller Anwendung: Bilder, die Auflistungen einer individualisierten Sicht und Praxis verschiedener Ikonographien, Epochen und Kulturkreise sind. Es sind Gedächtniskarten über die Entstehung, Verbreitung und Weiterentwicklung unseres kulturellen und gesellschaftlichen Verstehens und Erinnerns, deren Manifestation in der gebauten Architektur sichtbar wird.
Kerstin Cmelka, August 2010